thema der Wohnungswirtschaft
N°1 – Der perfekte Sturm

Leipzig schafft blau-grüne Infrastrukturen

Prof. Dr. Roland Müller

Departement-Leiter des Umwelt- und Biotechnologisches Zentrum (UBZ) am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung

Seine Forschungsinteressen liegen unter anderem im Integrierten Wasserresourcen Management (IWRM), Verfahrensentwicklungen und –transfer in den Bereichen Umwelt- und Biotechnologie sowie Siedlungswasserwirtschaft, dezentrale Abwasserbehandlung und  Implementierungskonzepte von Abwasserinfrastrukturen.

Das Neubauquartier „Leipziger 416“ steht für Richtungsweisendes. Mit dem vom Bundesforschungsministerium geförderten Forschungsprojekt „Leipziger BlauGrün“ wird dort gezeigt, wie im Sinne der Klimaanpassung Niederschlagswasser von der zentralen Abwasserkanalisation abgekoppelt werden kann.

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Prof. Dr. Roland Müller

Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung

Dort, wo einst unweit des Leipziger Hauptbahnhofs der Eutritzscher Freiladebahnhof stand, wird ein neues Stadtquartier geplant, in dem rund 4.000 Menschen leben sollen. Etwa 2.400 Wohnungen, ein 5,5 ha großer Park, ein Schul- und Sportcampus mit einer Geimeinschaftschule, zwei Kitas, kulturelle und soziale Einrichtungen, reduzierter Autoverkehr – so sehen die Vorstellungen für das neue Quartier „Leipzig 416“ aus. Um für dieses neue Viertel nachhaltige Wasser- und Energieinfrastrukturen zu entwickeln, kooperieren Wissenschaftler, die Stadtverwaltung, die Kommunalwirtschaft, die Investoren und Praktiker gemeinsam im Projekt „Leipziger BlauGrün“, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung nun in einer zweiten Projektphase fördert. Die Arbeiten des Leipziger UFZ Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, das die Projektkoordination innehat, zeigen, wie in einem neuen Innenstadtquartier das zentrale Abwassersystem entlastet, die Energieeffizienz verbessert und die Auswirkungen von Starkregen und Dürreereignissen gemindert werden können.

Quelle: Octagon-Architekturkollektiv LOIDL Landschaftsarchitekten

Die Planung zeigt die verschiedenen Funktionen im Quartier 416.

Elemente des Schwammstadkonzepts

Das Forschungsprojekt setzte mit den Praxispartnern von der Stadt Leipzig und den Investoren im kommunalen Planungsprozess des Neubauquartiers Elemente des Schwammstadtkonzeptes um. Dieses besagt, dass die in der Stadt anfallenden Niederschläge dort verbleiben und nicht über Straßen, Gehwege und Plätze in die Kanalisation geführt werden sollen. Schon jetzt haben die veralteten Kanalnetze in vielen Städten ihre Kapazitätsgrenzen längst überschritten und sind bei Starkregen überfordert, sodass in diesen Fällen das verschmutzte Mischwasser in Flüssen landet. Um das Wasser aber im urbanen Raum zu halten, sind dezentrale blaugrüne Infrastrukturen notwendig – dezentral deshalb, weil der Niederschlag an vielen unterschiedlichen Stellen gesammelt und gespeichert werden kann – und blaugrün, weil der Niederschlag mithilfe sogenannter multifunktionaler blaugrüner Wasserinfrastrukturen in den Quartieren bleiben soll.

Quelle: Octagon-Architekturkollektiv LOIDL Landschaftsarchitekten

Wie das Management des Niederschlagswassers im Quartier „Leipzig 416“ gestaltet werden könnte, analysierte Umweltbiotechnologe Dr. Manfred van Afferden. Er erstellte Wasserbilanzen auf Basis einzelner Häuserblöcke, von denen im Quartier mehr als 20 geplant sind. Der ehemalige UFZ-Forscher modellierte dafür ausgehend von historischen Niederschlagsvergleichswerten in Leipzig die Abflussmenge von den Dächern sowie von möglichen Gestaltungseinheiten im Innenhof eines Häuserblocks wie etwa Tiefgarage, Wege, Radstellplatz, Spielplatz, Bäume, Rasenfläche oder Blumenbeete. Unterm Strich bleiben so bei unterschiedlichen Niederschlagsszenarien Abflussmen- gen, die im Innenhof versickern oder gespeichert werden müssen. Doch das ist nicht die einzige Herausforderung: So sollen die Innenhöfe auch in trockenen Sommern grün bleiben; Bäume, Sträucher und Wiesen deswegen bewässert werden können. Zudem ist die Flächenkonkurrenz im Innenhof groß: Pflanzen, Sandkästen, Sitzgelegenheiten und Fußwege müssen dort genauso ihren Platz finden wie unterirdische Bauwerke, zum Beispiel Tiefgaragen, Retentions-, Versickerungs- und Speicheranlagen. Diese engen wiederum Bepflanzungsoptionen ein und begrenzen damit naturnahe Gestaltungsmöglichkeiten. Das zeigt sich etwa bei einem möglichen Einsatz von Zisternen. Eine andere vielversprechende Option sind Grundwasserbrunnen, die für einzelne Häuserblöcke oder zentral angelegt werden. Voraussetzung: Um den Grundwasserleiter nicht überzustrapazieren, darf nur die Wassermenge entnommen werden, die im Block als Niederschlagswasser versickert ist. Notwendig für eine ausgeglichene Wasserbilanz im Häuserblock sind zudem Gründächer.

Berechnungen für einen "Musterblock"

Unter Berücksichtigung der Klimadaten von 2010 – 2022 wurde im Berichtszeitraum exemplarisch für einen „Musterblock“ der Wasserhaushalt modelliert, und gezeigt, wie dieser durch BG-Infrastrukturen bestimmt wird. Zielvorgaben sind ein abflussloser Häuserblock und ein optimal bewässerter, auch in trockenen Jahren, grüner Innenhof. Für die Bewässerung wird das gesammelte Niederschlagwasser aus der Zisterne verwendet. Eine wesentliche Herausforderung bei der Integration der siedlungswasserwirtschaftlichen Anforderungen ist die Flächenkonkurrenz zwischen unterirdischen (Tiefgarage, Rigole, Zisterne) und oberirdischen Bauwerken (Gehweg, Spielplatz, Radstellplätze) sowie der Notwendigkeit einer naturräumlichen Flächennutzung (z.B. Baumstandorte, Grünfläche).

Über den betrachteten Zeitraum von 12 Jahren wird der Großteil des Niederschlagswasser, ca. 68% (2475 m3/Jahr) in den Kanal geleitet (Abbildung links). Die Kosten für die Kanaleinleitung des Niederschlagswassers, bei einer versiegelten Fläche von 5086 m2, belaufen sich auf ca. 4781 € / Jahr[1].

Bei der Modellierung des Szenarios BlauGrün müssen verschiedene Wasserflüsse berücksichtigt werden (siehe nebenstehende Abbildung). Unter Berücksichtigung der Klimadaten von 12 Jahren (2010 – 2022) ist es möglich mit BG-Infrastrukturen eine ausgeglichene Wasserbilanz zu erreichen und Bewässerungswasser aus der Zisterne oder aus dem Brunnen für den Innenhof bereitzustellen. Dadurch wird die Verdunstung im Innenhof von ursprünglich 30% auf 70% wesentlich erhöht. Da kein Abfluss generiert wird, werden die Gesamtkosten für die Kanaleinleitung des Niederschlagswassers aus Szenario 0 eingespart.

Musterblock mit blaugrünen Infrastrukturen

Auch das Umweltbundesamt (UBA) will mit den neuen, im Projekt „Leipziger BlauGrün“ gewonnenen Ansätzen zum dezentralen Wassermanagement arbeiten. Damit Städte erkennen, dass es sich lohnt und angesichts des Klimawandels auch notwendig ist, mit Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung innovative Ansätze zu entwickeln, hat es ein neues Tool einer vereinfachten Umweltbewertung entworfen. Diese bewertet Vor- und Nachteile dezentraler blaugrüner Infrastrukturen anhand von Parametern wie etwa dem Ressourcen- und Energieverbrauch.

Die Verstetigung über die Projektlaufzeit hinaus wird auf Initiative des Forschungsprojekts durch das ämterübergreifende Lenkungsnetzwerk „Wassersensitive Stadtentwicklung“ sichergestellt. Hier werden Verwaltungs- und Genehmigungsprozesse für die „blaugrüne Stadtentwicklung“ unter Federführung der Leipziger Wasserwerke bewertet, priorisiert und die Umsetzung vorbereitet. Nachdem in Projektphase 1 in erster Linie der Planungsprozess des großen Neubauquartiers am Eutritzscher Freiladebahnhof wissenschaftlich begleitet wurde, werden in der im März 2023 angelaufenen Phase 2 Potenziale bewertet und analysiert. Ziel ist es, Investitionsplanungen auch für Bestandsquartiere übertragen und zur blaugrünen Transformation der Abwasserinfrastrukturen nutzen zu können. Im Rahmen einer Bestandssanierung bei der Leipziger Wohnungsbaugesellschaft mbH soll dies modellhaft vertieft werden.

Neben der Evaluierung öffentlicher Liegenschaften und einer Bewertung der Funktionalitäten realisierter Infrastrukturen hat die Aufstellung eines Leipziger Aktionsplans für den künftigen Einsatz blaugrüner Investitionsvorhaben zudem große Bedeutung. Der Ausbau blaugrüner Infrastrukturen kann auf rechtliche Probleme stoßen, die etwa die Anforderungen an den Überschwemmungs- und Umweltschutz, die Sicherheit oberirdischer Anlagen, die Planung und Finanzierung sowie die Möglichkeiten der Durchsetzung gegenüber den Eigentümern und Investoren betreffen, sollten diese nicht freiwillig zum Bau etwa von Gründächern oder Versickerungsanlagen bereit sein.

Ziel ist es, Investitionsplanungen auch für Bestandsquartiere übertragen und zur blaugrünen Transformation der Abwasserinfrastrukturen nutzen zu können.

Der UFZ-Umweltrechtler Dr. Moritz Reese untersucht deswegen in dem Projekt, wie diese Fragen nach geltendem Recht beantwortet werden können und in welchen Bereichen es eine Option wäre, das Recht zu ändern, damit es für eine blaugrüne Stadtentwicklung Anreize liefert und sie nicht unnötig behindert. „Was vor allem fehlt, ist eine zukunftsweisende, gesetzlich geregelte Fachplanung zur Abwasserinfrastruktur, welche die Kommunen verpflichtet, integrierte blaugrüne Konzepte in Abstimmung mit relevanten Ressorts der Stadtplanung und unter Beteiligung der Bürger zu entwickeln und formal zu beschließen“, sagt er. Ohne eine abgestimmte und bindende Planung könne die grundlegende Transformation zu dezentralen Infrastrukturen nicht gelingen und die Widerstände von Eigentümern und Investoren nicht überwunden werden. Das geltende Recht stehe ressourcen- und umweltschonenden Quartiersinfrastrukturen bei progressiver Auslegung nicht entgegen, insbesondere wenn Kommune und Investor beziehungsweise Grundeigentümer zur Umsetzung bereit seien.

[1] Kostenberechnung nach: https://www.l.de/wasserwerke/preise/wasserpreisrechner/wasserpreisrechner-2020-2021

Dieser Beitrag ist die Aktualisierung eines Artikels in der DW(7/23).

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